Erzwungene (Selbst-)Übersetzung. Sprach- und Übersetzungsarbeit von ExilwissenschaftlerInnen in den USA (1933-1945) und die Entwicklung des Englischen zu einer internationalen Wissenschaftssprache.
Tagungsbericht (Garda Elsherif)
Aufgrund politischer Verfolgung waren im 20. Jahrhundert zahlreiche europäische WissenschaftlerInnen gezwungen auszuwandern. Im Exil mussten die meisten ihre Arbeit in einer neuen Sprache fortsetzen. Dies gilt insbesondere auch für den angloamerikanischen Raum, wo zu der Zeit systematisch gegen die Mehrsprachigkeit im Bildungssystem vorgegangen wurde.[1] Die erforderliche Umstellung lässt sich allerdings kaum als bloßer Sprachwechsel begreifen. Die in den Korrespondenzen und Entwürfen oder Vorarbeiten zu englischsprachigen Veröffentlichungen von AutorInneen wie etwa Hannah Arendt oder Karl Popper dokumentierte Problematisierung ihrer Forschungsarbeit im Exil lässt darauf schließen, dass diese sprachliche Umstellung vielmehr als ein komplexer Prozess der Übersetzung und Selbstübersetzung nicht nur in eine neue (Wissenschafts-)Sprache, sondern auch in eine neue Wissenschafts- und Intellektuellenkultur zu beschreiben ist. Dieser „vertriebenen Vernunft“, wie Friedrich Stadler[2] die vertriebenen europäischen Intellektuellen beschreibt, und ihren translatorischen Anstrengungen und Strategien, sich anschlussfähig zu machen für eine neue Reflexionstradition, ist bis heute aus translationshistorischer Perspektive wenig Beachtung geschenkt worden.
Dies hat mitunter damit zu tun, dass die für die angestrebte Anschlussfähigkeit notwendigen Prozesse der Übersetzung und Selbstübersetzung häufig nicht gleich einsichtig sind, sondern vor allem in Fällen der Selbstübersetzung erst rekonstruiert werden müssen, denn häufig existiert kein distinkter Ausgangstext als Ausgangspunkt der Übertragung. Der Ausgangstext muss in diesen Fällen erst als Bricolage zusammengesetzt werden aus dem Gesamtwerk der WissenschaftlerInnen samt veröffentlichter und nicht veröffentlichter Notizen und Korrespondenzen, in denen etwa spezifische ‚Übersetzungseinheiten‘, d. h. Termini, Begriffe, (implizite) theoretische Annahmen oder Überzeugungen problematisiert werden.
Die Übersetzungsgeschichte ist in den letzten Jahrzehnten zu einem dynamischen Forschungsfeld angewachsen, das sich unter dem programmatischen Schlagwort des translational turn zu einem die Disziplingrenzen transzendierenden Arbeitsgebiet entwickelt hat. Die übersetzungsbezogene Optik hat sich dabei für viele historische Wissenschaften als produktiv erwiesen, um diejenigen hidden histories zu beleuchten,[3] die bestimmte auf sprachlicher und kultureller Ebene beobachtbare Transfer- und Transformationsprozesse überhaupt erst bedingen. Eine übersetzungsbezogene Perspektive auf die Forschung der Exilwissenschaftler verspricht zunächst einmal sichtbar zu machen, welche Elemente eines Textes oder eines wissenschaftlichen Diskurses (Termini, Begriffe, theoretische Vorannahmen, Überzeugungen, Positionen, Perspektiven oder Kritik etwa) von den im (Selbst-)Übersetzungsprozess involvierten AkteurInnen für übersetzungswürdig bzw. für (un-)übersetzbar gehalten wurden. Dabei wird auch einsichtig, welche sprachlichen, kulturellen, akademischen Grenzen, die die (Selbst-)Übersetzung herausforderten, von den TranslatorInnen antizipiert und welche translationspolitischen Strategien entwickelt wurden, um solche Grenzen zu überbrücken, abzubauen oder auch zu markieren. Schließlich sollen aus einer übersetzungshistorischen Perspektive die längerfristigen Effekte dieser (Selbst-)Übersetzungen in der angloamerikanischen Wissenschaftssprache und -kultur herausgearbeitet werden. In dieser interkulturellen und translatorischen Optik erscheint die englische Wissenschaftssprache, die im Fachsprachendiskurs als lingua franca vornehmlich hinsichtlich ihrer Tendenz, wissenschaftskulturelle Diversität zu minimieren, diskutiert wird,[4] in einem neuen Licht und kann zunächst einmal als ein interkulturell und transdisziplinär gewachsenes Instrument internationaler Forschung untersucht werden.
Im Zentrum des geplanten Workshops werden vor allem auf Englisch verfasste wissenschaftliche Texte von ExilwissenschaftlerInnen (USA 1933–45) stehen, in denen translatorische ‚Spuren‘ erkennbar werden. Solche Spuren manifestieren sich etwa in Lehnübersetzungen und Teutonismen oder in Form erkennbar zielsystemorientierter Adaptationen, Explikationen und Reformulierungen. Gleichzeitig sollen ‚translaborative‘ Spuren in Texten von exilierten AutorInnen nachgezeichnet werden, die von ihrer Zusammenarbeit mit englischsprachigen ÜbersetzerInnen, LektorInnen oder KollegInnen zeugen.
[1] Gordin, Michael. Scientific Babel. Chicago: University of Chicago Press, 2015, 180–185.
[2] Stadler, Friedrich. Vertriebene Vernunft: Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft 1930–1940. Wien: Jugend und Volk, 1987.
[3] Cronin, Michael. Translation and Globalization. Abingdon: Psychology Press, 2003.
[4] Bennett, Karen, and Rita Queiroz de Barros. “International English: Its Current Status and Implications for Translation.” The Translator 23, no. 4 (October 2, 2017): 363–370; Phillipson, Robert. Linguistic Imperialism. Oxford: Oxford UP, 1992.